JAMES HAYDEN

Das Leben ist ein Balanceakt

Als die britische Fahrradlegende James Hayden uns in seinem Apartment im spanischen Girona willkommen heißt, erinnern wir ihn schnell wieder an einen ganz bestimmten Sommerabend im Jahr 2019. Es ist das Jahr, in dem er sich dem berüchtigten Highland Trail 550, einem der extremsten Offroad-Endurance-Bike-Packing-Rennen der Welt, stellte. Und nicht nur das, es war auch Haydens erste Erfahrung in Sachen Offroad und er gibt zu, dass er damals nicht den blassesten Schimmer hatte, worauf er sich einließ.

Das zeigte sich dann auch mitten auf der Rennstrecke. Er hatte noch ganze 12 Stunden Fahrt vor sich, aber bereits die erste Panne. Hayden hatte keine Wahl, er musste eine Pause einlegen und seinen Schlauch reparieren. Kaum war er wieder im Sattel, stellte er nur 20 Meter weiter fest, dass sein Schalthebel nicht funktionierte. Nach einigen Fuchteleien und zunehmender Frustration, vor allem, da es bereits begonnen hatte zu regen, gelang es ihm dann auch diesen wieder in Schuss zu bringen.

„In dem Moment hätte ich einfach nur schreien können“, meint er. „Dir ist zwar bewusst, dass diese Panne noch lange nicht das Ende bedeutet, aber dennoch ist es unendlich nervig. Es ist einfach zum Sch*** brüllen. Und dennoch: Aus irgendeinem unerklärlichen Grund konnte ich mich schnell wieder beruhigen und klare Gedanken fassen. Vielleicht wollte mich eine höhere Macht auf die Probe stellen. Von diesem Moment an war mir klar: Ich schaff das. Ich schwang mich wieder auf mein Bike und fuhr weiter. Jede weitere Panne sah ich als einen Test an, eine Herausforderung, die es zu überwinden gilt.“

Ultra-Endurance-Rennen, bei denen Fahrer*innen jeden Tag unter schwersten Bedingungen hunderte Kilometer zurücklegen müssen, stellen eine unglaubliche Herausforderung dar. Oder, um es mit James Haydens Worten zu sagen: „Man fährt so weite Strecken, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Und ganz ehrlich: Der Kampf mit dem Wetter ist genauso schwer, wie der gegen deine Mitstreiter*innen.“

Diese Aussage kommt nicht von ungefähr, denn Hayden weiß, was es heißt, gegen schlechtes Wetter ankämpfen zu müssen. Beim Transcontinental Race (TCR), dem längsten Ultradistanz-Radrennen durch ganz Europa, legte er bereits erfolgreich 4.000 Kilometer zurück. Bis auf mehrere Kontrollpunkte, die von allen passiert werden müssen, muss die Streckenplanung komplett selbst organisiert werden. Trotzdem schaffte es Hayden bei diesem Rennen zweimal den Sieg einzufahren und sich somit einen Namen zu machen.

Es blieb aber nicht nur bei seiner Teilnahme am Transcontinental Race. Hayden fuhr auch beim 1.700 km langem Silk Road Mountain Race in Kirgisistan mit, bei dem er 2018 nur knapp einem Überfallversuch entkommen konnte. Eines haben beide Rennen jedenfalls gemeinsam: Hilfe von außen ist gänzlich untersagt.

Der größte Kampf, den man bei Ultra-Endurance-Rennen ausfechten muss, ist der mit sich selbst. Laut Hayden ist man ständig damit beschäftigt, sich nicht zu sehr zu verausgaben, damit man bei Kräften bleibt und sich dennoch immer weiter zu pushen, um mit den anderen mithalten zu können. Der Brite hat in dieser Hinsicht seine Lektion gelernt. Als er zum ersten Mal am Transcontinental Race teilnahm, raste er nach dem Startschuss sofort los und kam als Erster am Kontrollpunkt am Mont Ventoux an. Danach merkt er allerdings schnell, wie seine Kräfte anfingen nachzulassen und er sich dann in Montenegro durchquälen musste, um überhaupt weitermachen zu können.

„Ich habe aus meinen Erfahrungen gelernt und gehe jetzt ehrfürchtiger an die ganze Sache ran.“

Oft ist es die eigene, ganze persönliche Einstellung, die am Schluss den Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg ausmacht. Man hat ständig diese nervige Stimme im Kopf, die einem einreden will, eine Pause zu machen und sich hinzulegen. Man schaltet komplett auf Survival-Modus.

„Sobald du aufgibst, bist du ganz allein. Niemand fällt dir da draußen in die Arme und spendet dir Trost. Wenn du negative Gedanken zulässt, wirst du sie nicht mehr los und das Rennen ist gelaufen.“

James Hayden stammt aus Royston, einer Kleinstadt in der Nähe von London. Dort entdeckte er auch seine Liebe zum Rennradfahren und nahm an seinem ersten Rennen im Zeitfahren teil, das er gleich gewann. Von da an wollte er immer gewinnen und das Fahrradfahren ermöglichte ihm eine Flucht aus dem Alltag, die er auch bitter nötig hatte. Mit Anfang 20 fiel er nämlich nicht nur in der Uni durch, sondern verlor auch noch seinen Vater und damit jeglichen Halt im Leben.

Heute, im Alter von 30 Jahren, hat sich Hayden wieder ein wenig gefangen und meint: „Ich habe mich wieder aufgerappelt. Vor kurzem habe ich in einem Artikel gelesen, dass man beim Blick in die Ferne Stress abbaut. Das ist im Endeffekt genau das, was man beim Fahrradfahren macht.“

Auch im Radsport war Haydens Leben nicht immer nur von Erfolg geprägt. Bevor er sich an den Transcontinental Race wagte, lagen einige erfolglose Saisons in seiner Heimat hinter ihm. Im Jahr 2016 kehrte er dann allerdings erfolgreich in die Rennsaison zurück und belegte im Jahr darauf sogar den vierten Platz. 2017 fuhr er dann einen Sieg ein und, nur um zu beweisen, dass dieser Sieg kein Glückstreffer war, ging er 2018 wieder an den Start und gewann noch einmal. Im Jahr darauf fühlte er sich schließlich ausgebrannt und ihm war schnell klar, dass er 2020 definitiv nicht wieder teilnehmen würde. Ein weiterer Grund dafür war vielleicht auch die Tatsache, dass er 2019 zum ersten Mal am Italy Divide teilnahm und auf einen Schlag wusste, dass er sich von nun an auf Offroad-Rennen konzentrieren wollte.

„Offroad bietet einfach so viel mehr. Man nimmt die Natur ganz anders wahr, da nicht ständig Leute um einen herum schwirren und man die Stille genießen kann. Außerdem ist die Herausforderung viel größer und es ist defnitiv schwerer seine Vorräte aufzustocken.“

Die Herangehensweise bei solchen Rennen ist einfach eine ganz andere und man muss sie bei jedem Rennen komplett neu überdenken, denn Italien ist nicht Kirgisistan. In Kirgisistan ist die Art der Selbstversorgung und der Umgang mit der Natur ganz anders. Was man auch gerne vergisst, ist, dass man ein Ultra-Endurance-Rennen schon Monate vorher planen und vorbereiten muss, damit es ein Erfolg wird. Es gilt die genaue Strecke zu bestimmen, die richtige Ausrüstung mitzubringen und genau einzuplanen, wann man die Pausen einlegt. Sehen wir uns zum Beispiel einmal Haydens erstes Ultra-Endurance-Rennen in den französischen Pyrenäen, das von dem langjährigen Fotografen Camille McMillan erstellt wurde, an: Dieses Rennen besteht aus einer Reihe von Strecken quer durch die Pyrenäen und es werden bewusst Ausgangssperren verhängt, um Schlafentzug zu minimieren.

„Um mich bestmöglich vorzubereiten, hatte ich mir eine Durchschnittsgeschwindigkeit ausgerechnet, der ich folgen wollte. Dabei habe ich mich einfach an der Siegerin vom Vorjahr, Emma Pooley, orientiert. Außerdem hatte ich zuvor analysiert, dass Station 12 der Strecke entscheidend sein würde und, dass man sich zu Beginn des Rennens beeilen sollte, sonst kommt man vor dieser Station schnell in die Ausgangssperre rein“, erklärt Hayden.

„Wenn man es schafft 36 Stunden am Stück durchzufahren und als Erster am Ziel dieser Station ankommt, hat man das Rennen im Endeffekt schon gewonnen.“

Und Hayden hat es geschafft. Der einzige andere Teilnehmer, der das auch schaffte, war der ehemalige Rennradprofi Christian Meier. Die beiden saßen zusammen im Hotel und warteten gebannt darauf, dass die Ausgangssperre aufgehoben wurde, sodass sie weiterfahren konnten. Sobald es weiterging, war Hayden nur noch auf den Sieg aus.

Das Tolle an Ultra-Endurance-Rennen ist, dass alle Teilnehmer*innen dabei die Möglichkeit haben, ihre ganz persönlichen, individuellen Erfahrungen zu sammeln. James Hayden erinnert sich noch genau an den Moment, als er bei seinem dritten Transcontinental Race seinen letzten Kontrollpunkt bei einem Hotel in Rumänien erreichte. Er hätte allen Grund zur Freude gehabt, da er dort schon wusste, dass er dieses Rennen gewinnen würde. Stattdessen wurde Hayden nachdenklich und musste unweigerlich an Mike Hall denken, der im selben Jahr bei einem Rennen in Australien ums Leben gekommen war.

„Ich war 700 km von der Ziellinie entfernt und musste einfach an Mike denken. Wie würde er das Rennen beenden? Die Antwort war klar: Losfahren und den Rest der Strecke bis zum Ende ohne Pause durchpowern. Schon oft hatte ich während meiner Laufbahn solche Momente - Momente, die einem einfach bewusst machen, wozu man wirklich in der Lage ist. Es sind genau jene Augenblicke, in denen du zu dir selbst findest und dir klar wird, wer du wirklich bist.“

Und genau aus diesem Grund ist es wenig überraschend, dass Hayden auch in der Corona-Krise und nach einem Unfall seinen Lebensmut nicht verloren hat. Als er sechs Wochen lang keinen Sport machen durfte, nutzte er die Zeit sinnvoll und baute seinen Kleinbus in ein Wohnmobil um. Als dann aufgrund der Corona-Krise immer mehr Reisebeschränkungen eingeführt wurden und das Silk Road Mountain Race auch noch ins Wasser fiel, beschloss er einfach mit seinem neuen Wohnmobil loszudüsen und bei anderen Rennen in ganz Europa anzutreten. Das war aber nicht die einzige Entscheidung, die er in dieser Zeit traf. Kurz vor dem Brexit beschloss der Brite zusammen mit seiner Frau nach Spanien auszuwandern.

„Man muss sein Leben selbst in die Hand nehmen und, wenn dir etwas nicht passt, dann musst du es eben passend machen. Das Fahrradfahren hat mir das nötige Selbstvertrauen gegeben, zu dieser Erkenntnis zu gelangen“, meint Hayden.

„Denke jetzt aber bloß nicht, dass du dich nur selbst finden kannst, wenn du eine 4.000 Kilometer lange Rennstrecke zurücklegst. Das will ich nämlich damit nicht sagen. Was ich sagen will ist: Teste hin und wieder deine Grenzen aus und du wirst erstaunt sein, was du alles über dich entdeckst.“


FOOTNOTESWords by Richard Abraham, Photos by Jojo Harper.Girona, Spain

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