GRAEME OBREE

Defying Time

Bereits zu Beginn unseres langen Interviews, bei dem wir über alle möglichen Themen, wie das Radfahren, Lebenseinstellungen, Religion, die Ablehnung einer Auszeichnung des britischen Königshauses, und moralische Grundsätze diskutieren, muss der Weltstundenrekordhalter, Bastler und zweifache Weltmeister im Zeitfahren Graeme Obree eine Pause einlegen.

„Ich will keine Ratschläge erteilen. Ich gebe grundsätzlich keine Ratschläge. Ich meine, wenn den Leuten nicht gefällt, was ich mache, gibt es noch 7 Milliarden weitere Personen auf diesem Planeten, an die sie sich wenden können. Und das Gleiche gilt auch für mich. Ich habe die Dinge so geregelt, dass sie für mich passen und wenn es dann zufällig Leute gibt, denen das auch gefällt, dann ist das toll. Aber es muss nicht jedem gefallen. “Mit dieser Aussage könnte er natürlich auch seine ausgefallenen Fahrradkonstruktionen meinen und sich nicht auf seine grundsätzliche Lebenseinstellung beziehen.

Obree blickt aus dem Fenster des Supermarktcafés in der schottischen Kleinstadt Kilmarnock und sieht sich den Parkplatz an. Er denkt wahrscheinlich darüber nach, was ihn inspiriert oder dazu antreibt, seinen Lebensweg so zu gehen, wie er ihn geht. Er sieht sich nach einer Möwe um. „Du darfst mich jetzt nicht auslachen, aber, als ich eines Tages eine Möwe beobachtete, wurde mir klar, dass sie einfach für den Moment zu leben scheint; immer im Hier und Jetzt. Egal, was in der Vergangenheit passiert war, oder was in der Zukunft noch passieren könnte, die Möwe konzentriert sich nur auf das, was sie gerade tut und nichts anderes. Graeme Obree ist jemand, der sehr viel Wert auf das legt, was allgemein auch als Achtsamkeit bezeichnet wird.

Solche Phrasen, wie ‚Lebe den Moment‘ und ‚Im Hier und Jetzt leben‘ gehören für viele heutzutage zur Lebenseinstellung, spielten aber in Obrees Kindheit in den 70er Jahren im schottischen Ayrshire so gut wie gar keine Rolle. Diese Lebenseinstellung erklärt vielleicht auch Obrees Liebe zum Zeitfahren, seine Besessenheit einzelne Strecken perfekt zu beherrschen und sein Verlangen, den Weltstundenrekord zu brechen. All das sind Ziele, deren Erreichen einen Fokus auf den Moment verlangt. Der professionelle Radfahrer in Obree musste tief in sich hinein horchen und erreichte eine Schmerzgrenze, die nicht viele von uns erleben werden.

„Wenn ich jetzt zurückblicke, merke ich, dass ich das heute nicht mehr könnte... Ich war also gar nicht dazu in der Lage mein Glück selbst zu bestimmen, denn es hing immer von externen Einflüssen ab. Dieses Gefühl lasse ich nicht mehr zu.“

Diese hat er Gott sei Dank überwunden; diese innere Verbissenheit, die ihn dazu getrieben hatte, sämtliche Weltmeistertitel zu gewinnen und einen unglaublichen Weltstundenrekord einzufahren ist nicht mehr vorhanden. Heute misst Obree sein Selbstwertgefühl nicht mehr am Gewinnen von Wettbewerben. Fünfundzwanzig Jahre, nachdem er den Weltmeistertitel in der Einerverfolgung 1995 in Bogota gewonnen hatte, hat er es endlich geschafft, sich von seiner unendlichen Verbissenheit lösen, die ihn damals dazu antrieb seinen Gegner Luis Carlos Galán auf der Radrennbahn zu schlagen und Gold zu holen.

„Wenn ich jetzt zurückblicke, merke ich, dass ich das heute nicht mehr könnte“, räumt Obree ein. „Ich war immer nur aufs Gewinnen aus, alle meine Sinne waren nur darauf fokussiert, den Gegner zu schlagen.“ Heute findet Obree, dass man diese Einstellung nicht dauerhaft halten kann und, dass sie auch nicht gesund ist. „Mir ist klar geworden, dass mein Glück damals nicht davon abhing, ob ich ein Rennen gewann, oder wie schnell ich fuhr. Wenn man darüber nachdenkt, dann hing es davon ab, wie schnell mein Gegnerunterwegs war. Wenn er langsamer war, als ich, dann gewann ich, wenn er schneller war, als ich, dann verlor ich. Ich war also gar nicht dazu in der Lage mein Glück selbst zu bestimmen, denn es hing immer von externen Einflüssen ab. Dieses Gefühl lasse ich nicht mehr zu.“

Obwohl es nicht mehr die Medaillen und die Meinungen anderer sind, an denen er sich misst, gibt es dennoch gewisse Momente seiner Karriere und besondere Menschen, die Obree sehr schätzt. Einer davon ist die italienische Fahrradlegende Francesco Moser. „Ich habe ihn auf der Mailänder Fahrradmesse getroffen und er lud mich dazu ein, am nächsten Tag mit ihm auf der Radrennbahn zu fahren. Wir haben nicht einfach nur so miteinander herumgehangen, sondern trainiert. Er musste sich schließlich auf einen Weltstundenrekord vorbereiten. Nach dem Training empfand ich ein Stück weit Respekt für ihn, ich sah ihn als gleichwertigen Gegner an, mit dem ich mich gerade gemessen hatte.“Die Tatsache, dass Moser eine Inspiration für den jungen Graeme Obree war und die beiden sich in Italien ein Rennen geliefert hatten, ist etwas, woran er sich gerne zurückerinnert und dieses Erlebnis hat auch zu einer unausgesprochenen Anerkennung von beiden Seiten geführt, die er auch heute noch sehr schätzt.

Ein Jahr nachdem Obree sich ein Rennen mit Francesco Moser geliefert hatte, stellte er sich noch einmal einem Italiener, genauer gesagt Andrea Collinelli, bei der Weltmeisterschaft in der Einerverfolgung in Bogota. Obrees Bemühungen zahlten sich aus und er qualifizierte sich zusammen mit Collinelli im Finale. „In den Anfangsrunden hatte ich mich ein wenig zurückgehalten gehabt, daher hatte ich später dann mehr Zeit, mich zu erholen, als Collinelli, der nach dem Halbfinale eine Sauerstoffzufuhr benötigte. Ich war natürlich auch völlig verausgabt, brauchte aber keinen extra Sauerstoff. Das war der Moment, als wusste, dass ich ihn schlagen kann.“

Obree mag es zwar als Schwäche angesehen haben, dass Collinelli eine Sauerstoffmaske benötigte, am Ende ging das Rennen dennoch knapp aus, sodass Obree mit nur ein wenig mehr als einer Sekunde Vorsprung gewinnen konnte. „Für mich ging es dabei um alles. Auf so einem hohen Berg in Kolumbien zu fahren war äußerst Kräfte zehrend, aber ich wollte mich der Herausforderung stellen und die Grenzen meiner Möglichkeiten ausschöpfen.“ Das mag etwas dramatisch klingen, aber es ist auch heute noch ein Beweis dafür, dass Obree gerne die Grenzen des Möglichen überschritt. Seine Stimme ist beim Erzählen seiner damaligen Einstellung immer noch so voller Überzeugung, dass es fast schon beängstigend wirkt.

Im Jahr 1996 vertrat Graeme Obree Großbritannien bei den Olympischen Spielen in Atlanta, bei denen er seinen ‚Superman‘ Fahrstil der ganzen Welt präsentierte. Zu dieser Zeit bediente sich der eine oder andere seiner Mitstreiter des Dopings, Obree zog da aber die klare Grenze. In Atlanta gelang es Andrea Collinelli, den Obree zuvor in Bogota geschlagen hatte, Gold zu holen. Bei den olympischen Spielen in Sydney schaffte es der Italiener dann aber nicht seinen olympischen Titel zu verteidigen, da er bei einem Dopingtest durch die Kategorie „Schmerzmittel und Steroide“ fiel.

„Alle Menschen haben diesen Wert, der ihnen nicht entzogen werden kann und der von nichts und niemandem abhängt.“

Ein sich ständig weiterentwickelnder Freigeist wie Graeme Obree kann in der Welt des professionellen Radsports gar nicht bestehen, deshalb hing er im Jahre 1997 seine professionelle Karriere an den Nagel. „Mein letztes Rennen war die britische 16 Kilometer lange Meisterschaft im Zeitfahren, die ich in einer von der UCI zugelassenen Fahrhaltung bestritt. Bei diesem Wettkampf ging es mir einfach nur darum, zu beweisen, dass ich ihn gewinnen kann“, sagt Obree und lächelt. Damit sah er sein Soll, was den professionellen Radsport anging, erfüllt.

Nach Beendigung seiner Radsportkarriere, füllten das Schreiben von Büchern, Filmadaptionen, Geschwindigkeitsrekordversuche, Auftritte in der Öffentlichkeit, sowie auch der Kampf mit psychischen Problemen, sein Leben. Jetzt, wo er all das durchgemacht hat, fasst Obree seine Lebenseinstellung folgendermaßen zusammen: „Meinen Selbstwert bestimme nur ich allein, er wird nicht, wie in meiner gesamten Radsportkarriere von anderen dominiert. Jetzt lebe ich mein Leben so, dass ich niemanden verletze, weh tue oder vernachlässige, vor allem nicht Leute, die mir nahestehen. Das bezieht sich natürlich auch auf mich selbst. Es gab unzählige Male in der Vergangenheit, dass ich Dinge nur getan habe, weil ich gedacht hatte, dass man das von mir verlangt. Das passiert mir heute nicht mehr. Bei Wettbewerben habe ich meinen Selbstwert von nicht beeinflussbaren Faktoren abhängig gemacht. Ich glaube, dass das viele Menschen in ihrem Leben tun, nicht nur Fahrradprofis. Heute habe ich die Erkenntnis erlangt, dass ich einen Wert als Mensch habe, ein Wert, mit dem ich geboren wurde. Alle Menschen haben diesen Wert, der ihnen nicht entzogen werden kann und der von nichts und niemandem abhängt.“

Obree möchte noch anmerken, dass er sich nicht von der Welt zurückgezogen hat und, dass „wir Menschen die einzige Spezies sind, die schon morgen mit dem unzufrieden sein kann, was sie heute glücklich macht. Geh mit deinem Hund spazieren und wirf einen Stock für ihn zum Fangen. Dein Hund wird sich freuen. Mach am nächsten Tag das Gleiche noch einmal. Dein Hund wird wieder das gleiche Maß an Freude empfinden. Und wir Menschen? Wir sind davon besseren immer etwas Neues entdecken zu müssen. Das kann auf Dauer nicht gesund sein, meine ich. Wenn du dich heute mit dem zufriedengeben kannst, was du schon hast, warum solltest du morgen nicht mehr damit zufrieden sein?“ Graeme Obree, der Mann, der es einfach immer wieder schafft mit seinen seltsamen Fragen zum Nachdenken anzuregen.

In der Zeit nach der Corona-Krise werden wir wohl nicht viel mit Graeme Obree gemeinsam haben, aber wir alle können unsere Lehren aus seiner Lebensgeschichte ziehen.


FOOTNOTESWords by by Kenny Pryde, Photos by Eilidh McKibbin and Daria Michalik. Darvel, East Ayrshire, UK

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